Eine ukrainische Familie fand Zuflucht im Haus einer polnischen Rotarierin
Am 24. Februar 2022 marschiert Russland in die Ukraine ein. Sein 22. Armeekorps rückt auf das Kernkraftwerk in Saporischschja vor, der Stadt am Dnjepr im Südosten der Ukraine, in der die Familie Morhun lebt.
Olena Morhun, eine Apothekerin: Ich erfuhr, dass der Krieg in der Nacht begonnen hatte. Mein Mann weckte mich und sagte, dass die Ukraine unter Beschuss steht und russische Truppen die ukrainische Grenze überschritten hatten. Er sagte mir, er wolle nicht, dass ich in der Ukraine bleibe, während wir Krieg haben. Er wollte, dass wir weit weg von Saporischschja gehen, weg von der Ostukraine. Da begannen wir darüber zu sprechen, wohin wir gehen könnten und wie.
Alisa Morhun, eines der Kinder von Olena: Einen Tag vor Kriegsbeginn besuchte ich meine Freundin und übernachtete bei ihr. Irgendwann am Morgen, so gegen 6 Uhr, weckte sie mich auf. Ich war noch sehr schläfrig. Sie sagte mir: "Der Krieg hat begonnen." Das kam mir alles sehr seltsam vor. Zuerst konnte ich mir gar keinen Reim darauf machen. Wenn man die Nachrichten liest, fängt man an, all die Dinge zu begreifen, die geschehen. Es ist schwer zu verstehen, dass dein normales Leben in einem kurzen Augenblick zerstört wird.
Am 27. Februar verließ Olena Morhun mit ihren Töchtern Alisa und Sofiia und ihrem Sohn Vitalii, der liebevoll Vitalik genannt wird, Saporischschja.
Olena: Wir verließen Saporischschja mit dem Evakuierungszug Saporischschja-Lwiw. Wir wollten in der Westukraine bleiben, aber als wir aus dem Zug stiegen und mit Leuten in Lwiw sprachen, rieten sie uns davon ab. Auch ihre Stadt wurde bombardiert. Es stellte sich heraus, dass der Ort, den wir für sicher hielten, überhaupt nicht sicher war. Die ganze Ukraine war in Gefahr. Ein Mädchen aus dem Freiwilligenzentrum setzte sich zu mir, und wir redeten bis tief in die Nacht. Sie half mir, die Entscheidung zu treffen, nach Polen zu gehen, anstatt in der Ukraine zu bleiben. Ich werde dieses Mädchen nie vergessen.
Alisa: Als wir die polnische Grenze überquerten, wussten wir nicht, wo wir landen würden oder was wir hier tun würden. Es gab überhaupt keinen Plan. Wir haben einfach auf das Beste gehofft. Wir überquerten die Grenze zu Fuß und landeten dann in einem Verteilungszentrum. Freiwillige Helfer haben uns geholfen. Sie fanden Menschen, die helfen wollten und ukrainische Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnahmen.
Nach einer viertägigen Reise von über 1.000 Kilometern erreicht die Familie Morhun Puławy, Polen, wo Krystyna Wilczyńska-Ciemięga, Mitglied des Rotary Clubs Puławy, mit ihrem Sohn Grzesio und dessen Frau Weronika Kowalska lebt. (Neben der Familie Morhun öffnete Wilczyńska-Ciemięga ihr Haus auch für zwei weitere Menschen aus Saporischschja, Ulzana Shakirova und ihren Sohn Tymur).
Krystyna Wilczyńska-Ciemięga: Wir warteten bis nach Mitternacht, Stunden vergingen und sie waren noch nicht da.
Alisa: Vitalik schlief während der Fahrt im Auto ein, und als es Zeit war, ihn zu wecken, war er sehr aufgeregt. Er weinte. Das war alles sehr viel für ihn.
Krystyna: Sie waren völlig erschöpft, vor allem die Kinder. Ich kann es gar nicht beschreiben. Sie waren bereits nur von Saporischschja nach Lwiw über einen Tag lang mit dem Zug unterwegs. Und dann kosteten die verschiedenen Hindernisse beim Transport zur polnischen Grenze Zeit und den Rest ihrer Kräfte. Also wollten sie nur noch schlafen, schlafen und noch mehr schlafen.
Olena: Als wir ankamen, dachte ich, es würde nicht allzu lange dauern. Eine Woche oder zwei, vielleicht einen Monat, dann würden wir nach Hause gehen. Ich hatte nicht vor, in Polen zu leben. Ich konnte den Gedanken nicht akzeptieren, dass ich für eine lange Zeit hier sein würde. Nach einem Monat oder so begann ich zu verstehen, dass ich nicht so schnell nach Hause zurückkehren konnte, dass der Krieg noch lange dauern könnte.
Krystyna: Von Anfang war klar, dass wir nicht einfach nur Gastgeber sind. Man kann jemanden drei Tage lang als Gast beherbergen, und nach drei Tagen hat man manchmal genug. Wir wussten jedoch, dass es für eine lange Zeit sein würde, und es gab kein bestimmtes Enddatum. Und von Anfang an sind Beziehungen entstanden, als wären wir hier eine Familie.
Olena: Krystyna liebt Kinder. Vitalik ist bei Menschen, die er nicht kennt, zurückhaltend, aber er hat sie sofort akzeptiert. Er hat sie sogar umarmt, was er bei Fremden nicht tut.
Krystyna: Von dem Moment an, als der Krieg ausbrach, war klar, dass die Polen den Flüchtlingen nicht nur helfen wollten, sondern dies auch taten. Wir wollten ihnen einen herzlichen Empfang bereiten. Ich habe einige Erinnerungen, die meine Entscheidung beeinflusst haben. Ich erinnere mich noch an den Krieg [Zweiter Weltkrieg] und an die Erzählungen über den Krieg, vor allem an die Erzählungen meiner Eltern. Auch wir wurden von Ort zu Ort gejagt. Vielleicht sind das die Erinnerungen, die mich dazu gebracht haben zu sagen: Ja, ich werde helfen. Aber ich denke, es ist generell mein Charakter. Der Charakter eines jeden Rotariers basiert auf der Überzeugung, geben zu wollen, anstatt zu nehmen. Die Leute fragen, wie es sich anfühlt, so etwas zu tun, und ich sage ihnen, dass das erste Gefühl Freude ist, weil es schön ist, zu geben.
Ende April beginnt es der Familie Morhun zu dämmern, dass sie nicht so bald in die Ukraine zurückkehren wird, was sie zwingt, sich mit der Planung einer ungewissen Zukunft auseinanderzusetzen.
Olena: Meine Gedanken drehen sich immer um die Ukraine. Deshalb ist es so schwierig für mich. Ich habe versucht zu begreifen, dass ich nicht zu Hause bin und irgendwie mein Leben hier aufbauen muss. Aber wie kann ich es aufbauen? Im Endeffekt habe ich habe nur einen Plan, nämlich wieder nach Hause zu kommen. Aber mir ist klar, dass dieser Plan nicht schnell umgesetzt werden kann. Also mache ich ein paar kleine Pläne: Polnisch lernen, einen Job finden, und so weiter...
Alisa: Meine Hoffnung für die Zukunft, mein Traum? Saporischschja ist die Stadt, in der ich geboren wurde, und ich möchte dorthin zurückkehren. Ich habe meine Heimat verlassen, ohne zu wissen, ob ich in einer Woche oder in zwei Jahren dorthin zurückkehren würde. Deshalb möchte ich zunächst einmal in die Ukraine, in meine Heimat, zurückkehren und dann mein Leben weiterführen. Vielleicht nicht bald, vielleicht erst nach vielen Jahren, vielleicht auch nie. In diesem Fall muss ich mein Leben irgendwo anders fortsetzen.
Krystyna: Im Jahr 1993, als der Rotary Club Puławy gegründet wurde, musste man die Seele eines sozialen Aktivisten haben, wenn man Ratsmitglied oder Politiker werden und sich für andere einsetzen wollte. So nennt man das in Polen, und wir gehörten alle zu dieser Klasse von Menschen. Wir hatten diese Sache bereits im Blut, dass wir zum Wohle anderer handeln sollten, genau wie das Hauptmotto von Rotary: Selbstloses Dienen. Also ist es für uns alle, die wir im Rotary Club Puławy sind, eine Art zweite Natur.
Aus: Rotary Oktober 2022