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Allen Widrigkeiten zum Trotz - Ein Leben mit Alzheimer

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Wie jeden Abend ging ich joggen. Wie so oft in letzter Zeit aber nicht allein. Die Monster in meinem Kopf kamen näher und näher und hatten mich fast erreicht. Nur ein panischer Endspurt bewahrte mich davor, bei Sonnenuntergang von den Monstern der Alzheimer-Krankheit eingeholt und überwältigt zu werden. 

Was als diesiger Frühlingsnachmittag begann, wich an der Uferpromenade der idyllischen Kleinstadt Brewster in Cape Cod der Dämmerung: ein klammer Nebel zog herauf, erst als prickelnder Sprühnebel und dann in dichten Schwaden, die den Geist durchdringen und die Sinne verwirren, bis man die Orientierung verliert. Es roch nach dem eiskalten Wind eines tobenden Nordatlantiksturms, einem Nor’easter, der den Atem verschlägt.  

Unter dem dichten Blätterdach von Eichen und Rot-Ahornbäumen wurde ich von den Dämonen gejagt, und ihr kreischendes Heulen drang aus dem dichten Bodenbewuchs aus Heckenkirsche und Myrte. Mein Herz klopfte rasend schnell und der Schweiß floss in Strömen. Ich war allein, voller Angst und Paranoia – und das Feuer in meinem Kopf brannte lichterloh.

Ich rannte, so schnell ich konnte, am Gemeinschaftsgarten von Brewster und seinen undurchdringlichen Maisstängeln vorbei, an einem Wald mit moosbewachsenen und makaber verdrehten Robinien und an dem alten Friedhof, auf dem Seekapitäne vor mehr als 200 Jahren ihre letzte Ruhe fanden. Eine glutrote Sonne versank in der Cape Cod Bay und erlosch wie eine Kerze. Die Dämonen ließen nicht locker, aber mit dem letzten Quäntchen Willenskraft konnte ich sie mir vom Leib halten. Ich bin mir sicher, dass sie mit aller Macht zurückkehren werden.  

Und das tun sie auch, wieder und wieder. Morbus Alzheimer und andere Demenzerkrankungen gaukeln dem Verstand etwas vor. Mein Leben, einst ein Langstreckenlauf, ist jetzt ein Wettrennen ums Überleben. Also renne ich weiter, allen Widrigkeiten zum Trotz. 

Mein Stammbaum weist mir den Weg in diesem Kampf. Sowohl der Vater meiner Mutter, meine Mutter und mein Onkel väterlicherseits erkrankten an Alzheimer. Vor seinem Tod wurde auch bei meinem Vater eine Demenz diagnostiziert. Jetzt hat mich die Krankheit in ihren Krallen. Ich bin Mitglied in einem Club, dem ich nie beitreten wollte. 

Mehr als 6 Millionen Amerikaner leben mit der Alzheimer-Krankheit. Weltweit sind schätzungsweise 55 Millionen Menschen an Demenz erkrankt. Angesichts der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft dürfte diese Zahl in den kommenden Jahren exponentiell steigen. Veränderungen im Gehirn wie die Anhäufung von Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen, die Neuronen zerstören und zu Alzheimer führen, können bereits ohne auffällige Symptome in den Vierzigern beginnen. Der Verlauf der Krankheit kann sich über 20 bis 25 Jahre hinziehen. 

Bei mir wurde die Alzheimer-Krankheit im Frühstadium nach zahlreichen Gehirnerschütterungen beim Sport und einem Schädel-Hirn-Trauma infolge eines schweren Fahrradunfalls ohne Helm diagnostiziert, die nach ärztlicher Aussage ein noch junges Monster freisetzten. Ich habe auch den stärksten genetischen Risikofaktor für Alzheimer, die Genvariante ApoE4, die offenbar auf beiden Seiten meiner Familie vorkommt. Heute kann ich 60 Prozent meines Kurzzeitgedächtnisses in Sekunden verlieren. Oft kommt es vor, dass ich Menschen, die ich fast mein ganzes Leben lang kenne, nicht wiedererkenne. Ich kämpfe mit Wutgefühlen, weiß manchmal nicht, wo und wer ich bin, und kann plötzlich nichts mehr riechen. Manchmal sehe ich Dinge, die es gar nicht gibt. Ich verlege regelmäßig Gegenstände und ziehe mich immer mehr aus sozialen Aktivitäten zurück. An einem Tag vor nicht allzu langer Zeit wollte ich mir gerade die Zähne putzen, als mein Kopf mir sagte, ich solle lieber zum Rasiermesser statt zur Zahnbürste greifen. Mein Herz sagte: „Nein ... du Böser!"  

Und manchmal weine ich im Stillen wie ein kleiner Junge, weil ich jetzt, mit 73 Jahren, spüre, dass es bald mit mir zu Ende geht.  

Illustrationen von James Steinberg

Ich wurde mit einem hohen IQ gesegnet und mit einer kognitiven oder synaptischen Reserve, wie es die Demenzspezialisten nennen. Damit ist im Wesentlichen die Fähigkeit des Gehirns zur Improvisation und dem Finden von alternativen Wegen oder anderen Synapsen gemeint, wenn im Kopf langsam das Licht ausgeht, erklärt der Alzheimer-Experte der Harvard University und des Massachusetts General Hospital Rudy Tanzi, der sich mit der Bildung von Beta-Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen und mit Entzündungen im Gehirn beschäftigt.  

Trotz jahrelangem Training von Körper und Geist gehen die Reserven aber langsam zur Neige. Die Ärzte vermuten, dass ich meine Schreibfähigkeit, die Essenz meines körperlichen Selbst, wahrscheinlich als letztes verlieren werde. Ich hoffe, sie haben Recht. Als Berufsjournalist schreibe ich alles in meinem Laptop – meinem tragbaren Gehirn – auf, damit ich nicht vergesse, wann, wo und warum man mich erwartet. Als zusätzliche Erinnerungshilfe schreibe ich mir regelmäßig E-Mails und SMS-Nachrichten. Ohne jegliche Strategien lassen sich Alzheimer und andere Demenzerkrankungen nur schwer bewältigen. 

Manchmal fühle ich mich wie ein kranker Tausendfüßler: Ich habe viele Beine, die aber nach und nach abfallen. Neben der Alzheimer-Krankheit wurden bei mir außerdem noch Prostatakrebs sowie schwere Depressionen und Angstzustände diagnostiziert. Und vor zwei Jahren musste ich mich im New England Baptist Hospital in Boston einer zehnstündigen rekonstruktiven Wirbelsäulenoperation unterziehen, bei der die Ärzte Knochen, Muskeln und Nerven durchtrennten und kleine Stahlstangen, Platten und Schrauben einsetzten, um eine Lähmung zu verhindern. 

Mein Glaube, die Hoffnung und mein irischer Humor geben mir Kraft. Meine verstorbene Mutter Virginia, die Heldin meines Lebens, denn sie hat 10 Kinder großgezogen, zeigte mir mit ihrem heldenhaften Kampf gegen Alzheimer, wie man überlebt, während die Wissenschaft fieberhaft nach einem Heilmittel sucht. Eine Mitleidsparty, sagte sie immer, ist nur eine Party mit sich selbst. 

Mit ihren eigenen Worten lehrte mich meine Mutter Rotarys Maxime vom selbstlosen Dienen, die mich heute antreibt. Ich habe meine Eltern in Cape Cod gepflegt und bin deshalb mit allen Seiten dieser Krankheit vertraut. (Letztes Jahr belief sich die unbezahlte häusliche Pflege von Demenzkranken durch Angehörige in den USA auf geschätzt 18 Milliarden Pflegestunden, was einem Wert von 339,5 Milliarden Dollar entspricht. Hinzu kommt die emotionale und körperliche Belastung der Versorgung von Angehörigen.) Als meine Eltern starben, zuerst mein Vater, und vier Monate später meine Mutter, saß ich an ihrem Bett. Ich sah die Fackel, die an mich übergeben wurde. 

Zum Glück habe ich ein unglaubliches Unterstützungssystem und nutze die Ressourcen, die auf den Haupt-Websites für die Alzheimer-Krankheit angeboten werden und für uns alle, die gegen die Demenz ankämpfen, enorm wichtig sind. Akkurate Informationen sind die Münze des Lebens. Der bereits erwähnte Dr. Tanzi leitet neben seinen akademischen Verpflichtungen auch die Forschungsgruppe der gemeinnützigen Organisation Cure Alzheimer’s Fund. Und dann ist da noch die Neurowissenschafterin Lisa Genova, die in Harvard promoviert hat und Autorin von fünf Bestseller-Romanen ist. Ihr Roman „Still Alice – Mein Leben ohne Gestern“ wurde mit Julianne Moore in der Hauptrolle verfilmt, die für ihre Darstellung einer angesehenen Professorin mit früh einsetzender Alzheimer-Krankheit den Oscar als beste Hauptdarstellerin erhielt. 

„Dein Gehirn ist erstaunlich“, schreibt Genova in der Einleitung ihres Sachbuchs Remember: The Science of Memory and the Art of Forgetting. „Jeden Tag vollbringt es wahre Wunder: es sieht, es hört, es schmeckt, es riecht und es fühlt und spürt. Es empfindet Schmerz, Freude, Wärme und Kälte, Stress und ein breites Spektrum an Emotionen. ... Dein Gedächtnis gibt dir ein Gefühl dafür, wer du bist und wer du warst. Wer schon einmal erlebt hat, wie die Alzheimer-Krankheit einen Menschen seiner persönlichen Geschichte beraubt, weiß aus erster Hand, wie wichtig das Gedächtnis für die Erfahrung des Menschseins ist.“ 

Gleichzeitig räumt Genova ein, dass das „Gedächtnis zwar König, aber auch ein bisschen dümmlich ist.“ Deshalb besteht schon ein deutlicher Unterschied, ob man vergisst, wo man seinen Autoschlüssel hingelegt hat, oder ob man nicht weiß, wozu der Schlüssel da ist. Ob man vergisst, wo man sein Auto geparkt hat, oder ob man vergisst, dass man ein Auto hat. Ich kenne diesen Unterschied nur zu gut. 

Vor einigen Jahren, als ich noch Auto fuhr, brachte ich unseren Müll zur Mülldeponie (ein höfliches Wort für die Müllkippe). Als ich den Müll abgeladen hatte, wusste ich plötzlich nicht mehr, wie ich zurück nach Hause komme. In diesem Moment dache ich daran, meine Frau Mary Catherine oder eines meiner Kinder anzurufen, damit sie mich abholen. Ich geriet immer mehr in Panik. Dabei stand ich direkt vor meinem knallgelben viertürigen Jeep. Doch mein Gehirn wollte mir einfach nicht sagen, dass dies mein Auto war. Ein rechtzeitig eintreffender Freund, der meine Aufregung erkannte, befreite mich aus dieser Situation und wies mich zu meinem gelben Jeep.

Die Dämonen kamen immer wieder, aber ich habe sie mit meinem ganzen Willen zurückgeschlagen. Zweifellos werden sie rachsüchtig zurückkehren.

Die laufende Forschung gibt Anlass zum Optimismus, dass sich das Fortschreiten der Krankheit bei Menschen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung und im Frühstadium des Morbus Alzheimer verlangsamen lässt. Auch die Ergebnisse wichtiger klinischer Studien und die Erkenntnisse zur Gehirnfitness sind vielversprechend. Im Juli erteilte die Arzneimittelbehörde der USA, die Food and Drug Administration (FDA), die Zulassung für das Medikament Leqembi, das von den Pharmaunternehmen Biogen und Eisai entwickelt wurde. Das ist die erste Zulassung der FDA für ein Medikament, das nachweislich das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit in frühen Stadien verlangsamt. Das Medikament zielt darauf ab, die Ablagerungen von Amyloid-Plaques im Gehirn aufzulösen, die für die Alzheimer-Krankheit und die Zerstörung von Neuronen verantwortlich gemacht werden.  

Die Zulassung ist „ein Hoffnungsschimmer für Millionen von Patienten, die alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihr Leben zu verbessern und zu verlängern und ihre Familien zu entlasten“, sagte der Vorsitzende und Mitbegründer der Organisation UsAgainstAlzheimer’s, George Vradenburg. „Menschen in einem frühen Stadium der Krankheit haben jetzt eine Waffe im Kampf gegen Alzheimer. Endlich haben wir ein Medikament, das das Übergreifen der Alzheimer-Krankheit auf das Leben und die Existenz unserer Familien verlangsamen kann.“ (Vradenburg ist für mich eine weitere Anlaufstelle für vertrauenswürdige Informationen über Gehirnfitness und Ressourcen zur Alzheimer-Krankheit wie die Website Brain Guide.)

Neben der frühzeitigen Diagnose und klinischen Tests spielt Gehirntraining eine wichtige Rolle bei der Eindämmung der Alzheimer-Symptome. Dr. Tanzi hat dafür ein nützliches Akronym entwickelt: SHIELD (dt. Schutzschild): Ausreichend Schlaf, mindestens sieben Stunden pro Nacht. Handhabung oder Bewältigung von Stress, der zur Bildung von noch mehr schädlichen Proteinablagerungen führen kann. Interaktion mit Freunden, denn soziale Kontakte wirken dem Drang entgegen, sich in sich selbst zurückzuziehen. Exercise oder Bewegung. Tägliche Bewegung fördert die Bildung neuer Gehirnzellen. Das Lernen von etwas Neuem führt zur Bildung von Synapsen zwischen den Gehirnzellen. Und schließlich eine gesunde und pflanzenbasierte Diät mit viel Gemüse, Obst, Hülsenfrüchten, Nüssen und Samen. 

In seiner bahnbrechenden Forschung konzentrierte sich Dr. Tanzi von Anfang an auf die für die Alzheimer-Krankheit charakteristischen Proteinablagerungen: Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen. Er vergleicht sie mit einem lodernden Feuer im Gehirn (obwohl diese Erfahrung für einige von uns mehr als nur eine Analogie ist). „Wir müssen das Feuer löschen“, sagt er, „und dann so viele Bäume (Neuronen) wie möglich retten.“ 

Deshalb sei die Früherkennung so wichtig, führt er fort. „Das ist der Elefant im Raum“, sagt er. „Alzheimer wird in der Regel zu spät erkannt, vergleichbar mit einer Herzinsuffizienz, die einen Bypass notwendig macht.“ Das sei falsch, so Tanzi weiter, denn zu diesem Zeitpunkt brenne das „Feuer“ im Gehirn bereits außer Kontrolle. 

Über die Jahre hinweg habe ich mehrere Freunde durch die alles verzehrende Feuersbrunst der Alzheimer-Krankheit verloren. Das tut weh und motiviert mich zugleich. Die Zeit ist knapp, und wir müssen Wege finden, um mehr Fördermittel für die Pflege und eine Heilung zu beschaffen. 

Bis dahin versuche ich, mich mit meinem eigenen Kampf ums Überleben abzufinden. Es ist wohl keine Überraschung, dass ich als Autor Trost in den Worten von zwei bedeutenden amerikanischen Schriftstellern gefunden habe. Der Dichter Robert Frost schrieb: „Alles, was ich über das Leben gelernt habe, kann ich in drei Worten zusammenfassen: Es geht weiter.“ 

Und Ernest Hemingway setzte mit folgenden Worten ein Ausrufezeichen dahinter: „Die Welt zerbricht jeden, und nachher sind viele an den zerbrochenen Stellen stärker.“ 

Man muss an den zerbrochenen Stellen stark sein.

Der Journalist, Redakteur und Herausgeber Greg O'Brien ist der Autor von „On Pluto: Inside the Mind of Alzheimer‘s“. Er und seine Familie sind Gegenstand des 2021 gedrehten Dokumentarfilms „Have You Heard About Greg?“

Aus: Rotary November 2023.

Die Rotary-Aktionsgruppe Alzheimer/Demenz unterstützt und fördert Alzheimer- und Demenzprojekte aller Größenordnungen.