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Polios „heimliche Helden“ in Tuskegee

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Auf dem Höhepunkt der Rassentrennung machte sich eine Gruppe schwarzer Ärzte und Wissenschaftler daran, Polio zu stoppen.

Text:

Irgend etwas stimmte mit Myron Thompson nicht. Es ist das Jahr 1949 und im amerikanischen Süden breitet sich die Kinderlähmung rasend schnell aus. Der gerade zweijährige Junge bekommt plötzlich hohes Fieber und kann sich kaum bewegen. Voller Angst bringt seine Mutter den Kleinen schnell in das nahe gelegene Krankenhaus in Tuskegee, Alabama – ein prächtiges Gebäude aus rotem Backstein, in dem Patienten in der viersäuligen Halle wie in einem Grandhotel empfangen werden. Die Ärzte und Krankenschwestern sind auf die Behandlung von Kindern spezialisiert, die an der Kinderlähmung erkrankt sind. Sie nehmen das Kind mit offenen Armen auf und beginnen sofort mit der Behandlung. 

Erst viele Jahre später wurde Thompson klar, wie glücklich er sich schätzen konnte, dass er als schwarzes Kind diese erstklassige Versorgung erhielt. Das Infantile Paralysis Center (zu dt. Zentrum für Kinderlähmung) am John A. Andrew Memorial Hospital auf dem Campus eines schwarzen Colleges war damals die einzige medizinische Einrichtung in den Vereinigten Staaten, die speziell für die Behandlung schwarzer Kinder mit Polio gebaut worden war. In anderen Teilen der Südstaaten während der Jim-Crow-Ära wiesen Krankenhäuser schwarze Patienten immer wieder ab. Dort, wo sie aufgenommen wurden, wurden sie getrennt von den weißen Patienten behandelt oder nur ungenügend versorgt. „Es ist ja nicht nur die Tatsache, dass ich überhaupt behandelt wurde“, sagt Thompson mit leiser Stimme und wohl überlegten Worten und blickt ernst durch seine Drahtbrille. „Ich wurde auch mit Würde behandelt.“ 

Das Tuskegee Institute, wie die Universität damals hieß, war ein besonderer Ort und das nicht nur, weil Kinder wie Thompson hervorragend versorgt wurden. Auf demselben Campus forschten schwarze Wissenschaftler und ihre Arbeit sollte entscheidend zur Entwicklung des ersten wirksamen Polio-Impfstoffs und zur Ausrottung der tödlichen Krankheit in den Vereinigten Staaten beitragen.

Diese Geschichte im Schatten eines zutiefst segregierten Landes wurde noch nicht gebührend gewürdigt. Der Rotary Distrikt 6880 in Alabama setzt alles daran, dies zu ändern.


Für Sam Adams fing alles mit einem Schwimmbad an. 

Als Governor nominee für Distrikt 6880 besuchte er 2017 die Rotary Clubs im Süden von Alabama. Er wollte sich mit den dortigen Mitgliedern treffen und Spenden für den Annual Fund der Rotary Foundation einwerben. In einem kleinen billigen Lokal an der Hauptstraße in Tuskegee erzählten ihm die Rotary-Mitglieder zwei Dinge, die ein Feuer in ihm entfachten: Erstens, dass Rotary-Gründer Paul Harris in den 1940er Jahren mehrmals den Winter in Tuskegee verbrachte. Und zweitens wurde gemunkelt, dass das Civilian Conservation Corps auf Anweisung von Präsident Franklin D. Roosevelt, der als junger Mann an Polio erkrankt war, in der Stadt ein Hallenbad für Menschen mit Kinderlähmung gebaut hatte. 

„Ich sagte darauf: ‚Was? Wollt ihr mich veräppeln?‘“, erinnert sich Adams, der Mitglied des Rotary Clubs Montgomery ist. „Das war wirklich einzigartig, weil es mit Polio in Verbindung stand.“  

Adams ist ein großer Geschichtsfan. Bis zu jenem Tag war ihm Tuskegee vor allem wegen der Ereignisse bekannt, die die Stadt und das Institut berühmt gemacht machten: die Tuskegee Airmen, die ersten schwarzen Militärpiloten, die im Zweiten Weltkrieg für ihr Land kämpften, als der schwarzen Bevölkerung in vielen Hochschulen, öffentlichen Schwimmbädern oder Bibliotheken der Zugang verwehrt wurde. Er wusste von der Tuskegee-Syphilis-Studie der US-Gesundheitsbehörde Public Health Service, die zum Aushängeschild für Menschenrechtsverletzungen wurde. Während der Studie, die von 1932 bis 1972 lief, wurden Hunderte von zumeist armen und des Lesen und Schreibens unkundigen schwarzen Männern, die an Syphilis erkrankt waren, über ihre Krankheit belogen und unbehandelt leiden gelassen..

Rotary-Mitglieder kontaktierten Dana Chandler, Archivar und Associate Professor für Geschichte an der Tuskegee University.

Foto: Nicole Craine

Adam, dessen Interesse geweckt war, stellte Nachforschungen nach dem genauen Ort des Schwimmbads an. Nach einiger Zeit bat er den damaligen Governor nominee und seinen späteren Nachfolger Bruce McNeal um Mithilfe. McNeal suchte vergeblich nach dem Ort und setzte sich schließlich mit Dana Chandler, Archivar und Associate Professor für Geschichte an der Tuskegee University, in Verbindung. 

Dieser Schritt öffnete die Schleusentore, erinnert sich Adams: „Bruce rief mich an und sagte: ,Sam, ich glaube, ich habe gefunden, was du suchst, aber das ist kein Schwimmbad. Es ist eine gewaltige Anstrengung, Poliokranken zu helfen und Polio zu verhüten‘.“  

Professor Chandler ist ein Megaphon für die Leistungen der Tuskegee University. Seit 2007 ist er Archivar der Universität und verfasste zusammen mit Edith Powell das Buch To Raise Up the Man Farthest Down: Tuskegee University’s Advancements in Human Health, 1881-1987. Er unterhielt McNeal mit Geschichten aus der glorreichen Vergangenheit der Hochschule. Der in die Sklaverei hineingeborene Booker T. Washington gründete 1881 das Institut in Tuskegee, das 1985 den Status einer Universität erhielt. Der Hochschullehrer und Forscher George Washington Carver unterrichtete Studenten und Landwirte in neuen landwirtschaftlichen Methoden. Die Hochschule ist außerdem eine Kulisse für eine bemerkenswerte Reihe von „Ersten“. Dazu gehören der Bau des ersten Krankenhauses für Afroamerikaner in Alabama (das John A. Andrew Memorial Hospital) sowie die Organisation der National Negro Health Week und der National Negro Business League. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte das Tuskegee Institute eine wichtige Rolle bei der Behandlung – und Verhütung – der Kinderlähmung.  

In den 1930er Jahren hatten schwarze Familien nur wenige Möglichkeiten, wenn ein Kind an Polio erkrankte. Zum einen war es kaum möglich, eine medizinische Versorgung zu finden – selbst die von Roosevelt gegründete Georgia Warm Springs Foundation verbot Schwarzen den Zutritt zu den Warmwasserquellen. Zum anderen herrschte damals in der medizinischen Fachwelt die Ansicht vor, dass Afroamerikaner wesentlich weniger anfällig für Polio sind. Viele weiße Ärzte waren damals der Meinung, dass Schwarze sich nicht mit Polio infizieren würden, sagt Chandler.  

Tatsächlich behandelten die Ärzte im John A. Andrew Memorial Hospital in Tuskegee seit Jahren schwarze Kinder, die an Polio erkrankt waren, und hatten sich für ihre Arbeit im Bereich der öffentlichen Gesundheit einen hervorragenden Ruf erworben. Auf Druck schwarzer Aktivisten, die den medizinischen Rassismus beenden und schwarzen Familien Behandlungsmöglichkeiten eröffnen wollten, stellte die Non-Profit-Organisation „National Foundation for Infantile Paralysis“ 1939 die bis dahin größte Fördersumme zur Einrichtung des Infantile Paralysis Center in Tuskegee bereit. Präsident Roosevelt und sein ehemaliger Kanzleipartner Basil O'Connor hatten kurze Zeit vorher die Stiftung gegründet, aus der später die Wohltätigkeitsorganisation March of Dimes hervorgehen sollte. „Paralysis Center Set Up for Negroes“ (Zentrum für Behandlung der Kinderlähmung für Schwarze eingerichtet) lautete damals die Schlagzeile in der The New York Times vom 22. Mai 1939. 

Oben links: John Chenault untersucht einen Polio-Patienten. MfG Tuskegee University Archives. Oben rechts: Das erste schwarze Kind auf einem Plakat der National Foundation for Infantile Paralysis, um 1949. MfG March of Dimes. Unten: Die Gründer der National Foundation for Infantile Paralysis, Präsident Franklin Roosevelt und Basil O‘Connor. MfG Tuskegee University Archives.

Der Artikel zitiert O‘Connor wie folgt: „Das Polio Center in Tuskegee wird viel mehr tun, als den schwarzen Opfern der Kinderlähmung die beste medizinische Versorgung zu bieten. Es wird schwarze Ärzte und Chirurgen in orthopädischen Techniken ausbilden. Es wird schwarze orthopädische Pflegekräfte ausbilden. Es wird schwarze Physiotherapeuten ausbilden. Tuskegee wird alle schwarzen Ärzte in der Früherkennung, richtigen Fürsorge und Nachbehandlung der Kinderlähmung unterrichten. Tuskegee wird eine wichtige Rolle im Kampf der Stiftung gegen die furchtbaren Folgen der Kinderlähmung spielen.“  

Vor seiner Eröffnung im Jahr 1941 wurde schwarzes Gesundheitspersonal für die Versorgung von schwarzen Familien eingestellt. Es war die einzige Einrichtung im ganzen Land, in der Schwarze ausschließlich für ihre Polioerkrankung behandelt wurden.


Wenn der heute 76-jährige Thompson an seine Zeit im Infantile Paralysis Center zurückdenkt, empfindet er noch immer eine tiefe Ehrfurcht. Alles an diesem Ort vermittelte das Gefühl, wichtig zu sein: von der Architektur des Gebäudes bis hin zu den Menschen, die dort arbeiteten. Hier lernte er, einen Rollstuhl und dann Beinschienen zu benutzen, und später ohne Hilfsmittel zu laufen. Das Infantile Paralysis Center blieb für ihn ein besonderer Ort, wo er von den Krankenschwestern gedrückt und getröstet und von den Ärzten liebevoll und mit Respekt behandelt wurde.   

Ein Arzt ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: John Chenault, laut der New York Times 1939 einer von nur zwei schwarzen Orthopäden in den gesamten USA. Dr. Chenault leitete die orthopädische Abteilung des John A. Andrew Memorial Hospital und war der erste Direktor des Infantile Paralysis Center. „Ich erinnere mich an ihn als einen freundlichen und behutsamen Arzt“, sagt Thompson. „Er sprach nie herablassend mit mir. Er beugte sich immer zu mir herunter, wenn er mit mir sprach. Niemand war für ihn wichtiger als das Kind.“ 

Wenn einer den Aufenthalt in einem Krankenhaus als idyllisch bezeichnen kann, dann wohl Thompson. So wie es seine Kindheit war. Er beschreibt Tuskegee in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren als eine Insel in einer Gesellschaft mit absoluter Rassentrennung. Hier gab es eine blühende schwarze Mittelschicht. Die meisten Beschäftigten waren dem Institut und dazugehörigen Krankenhaus oder dem örtlichen Veterans Administration Hospital angegliedert. „Ich bin in einer durch und durch schwarzen Gesellschaft aufgewachsen“, sagt er. Erst als er 1965 an der Yale University mit dem Studium begann, war er zum ersten Mal unter Weißen.  

Schockiert hörte er, wie es den anderen Schwarzen in Alabama und im ganzen Land erging. Er konnte in seiner Kindheit und Jugend Familienmitglieder in anderen Städten besuchen, und ihm wurde klar, wie gut er es gehabt hatte. „Die anderen Schwarzen in Alabama konnten nicht einfach wie wir durch den Eingang eines so stattlichen Gebäudes wie Tuskegee gehen“, sagt er. „Meistens mussten sie durch den Kellereingang gehen. Und das auch nur, wenn das Krankenhaus sie aufnahm.“


IIn den 1950er Jahren breitete sich die Kinderlähmung auf dem gesamten Planeten aus und lähmte oder tötete nach Angaben der World Health Organization mehr als 500.000 Menschen pro Jahr. Wissenschaftler arbeiteten rund um die Uhr an der Entwicklung eines Impfstoffs. Scientists were hard at work trying to develop a vaccine.

Einer von ihnen war Jonas Salk, der 1000 km nordöstlich von Tuskegee im Virenforschungslabor der medizinischen Fakultät der University of Pittsburgh arbeitete. Mit Unterstützung des National Institute for Infantile Paralysis entwickelte Dr. Salk einen Polio-Impfstoff mit inaktivierten Polioviren. Nachdem der Impfstoff bei Affen vielversprechende Ergebnisse zeigte, begann er, den Impfstoff an Freiwilligen zu testen, zu denen er selbst, seine Frau und seine Kinder gehörten. In der nächsten Phase wurde die Wirksamkeit des Impfstoffs 1954 an Hunderttausenden von Schulkindern getestet, die später als „Polio-Pioniere“ im größten Feldversuch der damaligen Zeit in die Geschichte eingingen. Der Versuch wurde von der National Foundation for Infantile Paralysis gefördert.

Kinder im Kreis Macon County in Alabama werden gegen Polio geimpft.

MfG Tuskegee University Archives

Für das Testen von Impfstoffen ist ein nahezu endloser Vorrat an menschlichen Zellen erforderlich. Möglich war dies kurz zuvor durch eine schwarze Frau geworden: Henrietta Lacks. 1951 hatte Lacks wegen einer schmerzhaften Erkrankung das Johns Hopkins Hospital aufgesucht, eines der wenigen Krankenhäuser, die arme Afroamerikaner behandelten. Die Diagnose lautete Gebärmutterhalskrebs. Ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung entnahm ein Arzt, wie es damals üblich war, eine Gewebeprobe aus dem großen Tumor. Lacks starb kurz darauf, die entnommenen Zellen aber lebten weiter. Das Besondere an den Zellen war, dass sie sich innerhalb von 24 Stunden verdoppelten und trotz der vielen Teilungen nicht abstarben, wie es bei normalen Zellen der Fall ist. Sie erhielten den Namen HeLa-Zellen und wurden zu einem unschätzbaren Teil der medizinischen Forschung. (Das Buch The Immortal Life of Henrietta Lacks von Rebecca Skloot beschäftigt sich ausführlich mit dem Leben von Lacks, ihrer Familie und den ethischen Fragen dieses inzwischen berühmt gewordenen Falls.) Um die Wirksamkeit des Salk-Impfstoffs zu testen, brauchten die Wissenschaftler eine astronomische Zahl von HeLa-Zellen. 

Wie Chandler und Powell in ihrem Buch beschreiben, hatten sich in der Zwischenzeit in Tuskegee andere wichtige Puzzleteile zu einem Bild zusammengefügt. Als Präsident der National Foundation for Infantile Paralysis wurde O'Connor 1946 zum Vorsitzenden des Kuratoriums von Tuskegee ernannt. Auf der anderen Seite des Campus finanzierte Carver aus eigenen Ersparnissen die 1940 gegründete George Washington Carver Foundation, die schwarze Wissenschaftler in moderner Agrarforschung ausbildete. Carver, der 1943 starb, setzte alles daran, um Polio-Patienten zu helfen. Eine seiner Methoden bestand darin, ihre Muskeln mit einem von ihm entwickelten Erdnussöl zu massieren. 

Als die National Foundation for Infantile Paralysis ein Labor benötigte, das für den Test des Salk-Impfstoffs große Mengen von HeLa-Zellen produzieren konnte, standen die Sterne für das Tuskegee Institute besonders gut. In ihrem Buch gehen Chandler und Powell der Frage „Warum Tuskegee?“ nach: „Warum nicht eine weiße Institution mit Erfahrung in der Laborforschung? Und wenn schon keine weiße Institution, warum dann nicht das Meharry Medical College oder das angesehene Hampton [Institute]?“  

Ihr Fazit lautet: „In erster Linie war es die enge Beziehung zwischen der NFIP [National Foundation for Infantile Paralysis] und Tuskegee, die zu der wichtigen Entscheidung führte, für die Vermehrung und massenhafte Verteilung der HeLa-Zellen eine moderne und zeitgemäße Forschungseinrichtung zu bauen und zu nutzen.“


Trotz ihrer hervorragenden Kenntnisse der Zellbiologie mussten die Forscher in Tuskegee erst in der Züchtung und Aufbewahrung von HeLa-Zellen geschult werden. Der Director der Carver Foundation Russell Brown wurde zum leitenden Prüfarzt des HeLa-Zellkulturprojekts ernannt. Ihm zur Seite stand der in Zellkulturen erfahrene Forscher James „Jimmy“ Henderson als zweiter Prüfarzt.  

Im Januar 1953 reisten die beiden im tiefsten Winter nach Minneapolis, um an der University of Minnesota von den Forschern zu lernen, die die ersten Arbeiten mit HeLa-Zellen durchgeführt hatten. In einem Artikel der Fachzeitschrift Scientific American aus dem Jahr 2021 schreibt Ainissa Ramirez über die Ankunft der beiden Forscher auf dem segregierten Campus und ihre Unterbringung am Rande des Universitätsgeländes. „Unter Minnesotas Sternenhimmel lernten Brown und Henderson die Grundlagen von Zell- und Gewebekulturen und bereiteten sie die Renovierung des Tuskegee-Labors nach ihrer Rückkehr nach ihren Plänen vor“, schreibt sie. In nur wenigen Wochen eigneten sie sich so viel Wissen wie möglich an. Im Februar kehrten sie nach Alabama zurück, um ihr neues Wissen in die Praxis umzusetzen. 

Im April 1954 begannen die Versuche mit dem Salk-Impfstoff in McLean im US-Bundesstaat Virginia und wurden bald auf die gesamten Vereinigten Staaten, Kanada und Finnland ausgeweitet. Insgesamt nahmen 1,8 Millionen Kinder an der Studie teil. Ein Teil der Probanden erhielten den Impfstoff, ein anderer Teil ein Placebo und weiterer Teil diente als Kontrollgruppe.

Jeanne M. Walton bei der Untersuchung von HeLa-Zellen.

MfG Tuskegee University Archives

Um die Wirksamkeit des Impfstoffs zu testen, mischten die Forscher Polioviren mit der Blutprobe eines geimpften Kindes. Diese Mischung gaben sie dann in ein Reagenzglas mit HeLa-Zellen, die äußerst anfällig für Polioviren sind. Bei einem wirksamen Impfschutz würden die Antikörper im Blut die Polioviren angreifen und die HeLa-Zellen vor einer Infektion schützen. Ohne Impfschutz würde das überlebende Poliovirus die HeLa-Zellen angreifen, was zu einer unter dem Mikroskop erkennbaren Deformierung der HeLa-Zellen führen würde.  

Ein Artikel in der New York Times aus dem Jahr 1955 beschreibt den enormen Arbeitsaufwand in Tuskegee: 25 schwarze Wissenschaftler und Labortechniker produzierten wöchentlich 12.000 Reagenzgläser mit HeLa-Zellen, die an Labors geschickt wurden. „In Tuskegee werden die Zellen in dicht aneinandergereihten Inkubatoren gezüchtet, in Kulturröhrchen abgefüllt und dann in einer speziellen Verpackung, die eine Substanz zur Aufrechterhaltung der richtigen Wachstumstemperatur für mindestens 96 Stunden enthält, per Luftfracht verschickt“, heißt es in dem Artikel.  

Der Artikel beschreibt weiter, wie 27 Labors in den gesamten USA 40.000 Blutproben von den an der Studie teilnehmenden Kindern untersuchten. „Etwa die Hälfte der Labors verwendet die HeLa-Zellen, die von den Einrichtungen der Carver Foundation auf dem Tuskegee Campus gezüchtet wurden“, so der Artikel. 

Am 12. April 1955 gaben die Forscher die Studienergebnisse bekannt: Die Wirksamkeit des Salk-Impfstoffs gegen die paralytische Kinderlähmung wurde auf 80 bis 90 Prozent beziffert. Einige Zeit später wurde ein weiterer Impfstoff zugelassen, der von dem Arzt und Mikrobiologen Albert Sabin entwickelt worden war. Nach Angaben der US-Seuchenschutzbehörde U.S. Centers for Disease Control and Prevention, Centers for Disease Control and Prevention (CDC) ging die Zahl der Poliofälle in den USA von fast 58.000 im Jahr 1952 auf etwa 5.500 im Jahr 1957 zurück. 1965 wurden nur noch 72 Fälle gemeldet. 1975 wurde das Infantile Paralysis Center in Tuskegee geschlossen, da es nicht mehr benötigt wurde. 

Heute ist das Polio-Wildvirus nur noch in zwei Ländern der Welt endemisch: Pakistan und Afghanistan.


Die wichtige Arbeit in Tuskegee ist umfassend belegt. Doch nur wenige Menschen, selbst in Alabama, wissen um den Beitrag zu dieser enormen Aufgabe. Als McNeal und Adams davon erfuhren, wussten sie sofort, dass die Würdigung dieser unbekannten Helden mehr als überfällig war. „Als Rotarier und als Rotary Distrikt fassten wir den Entschluss, einen Teil der Geschichte dieses Ortes zum Leben zu erwecken“, sagt McNeal.  

2019 besuchte McNeal zum ersten Mal die Tuskegee University, wo Dr. Chandler ihn in die Archive mitnahm. „Wir fanden ein Foto, auf dem einer der berühmten Ärzte des Campus, eine Krankenschwester, die sich um die Polio-Opfer kümmerte, sowie ein Polio-Opfer zu sehen waren“, so McNeal. „Dieses Foto erzählte die Geschichte der Liebe und der Fürsorge an diesem Ort."

Von links nach rechts: Tuskegee University Trustee Henry Davis III mit den Rotary-Mitgliedern Bruce McNeal, Adell Goodwin, Sam Adams und Graham Champion im Museum der Tuskegee University. Foto Nicole Craine.

Im August 2022 wurde vor dem ehemaligen Infantile Paralysis Center, dem heutigen Legacy Museum, eine Bronzestatue enthüllt, die einen Polio-Patienten mit seinem Behandlungsteam darstellt. Foto: Nicole Craine.

Da kam mir die Idee: Vielleicht könnte man dieses Foto als Vorlage für eine Skulptur verwenden und diese vor dem früheren Infantile Paralysis Center aufstellen?“ Nach der Zustimmung der Universitätskuratoren zu diesem Vorhaben begann der Rotary Distrikt 6880, Spenden für das Denkmal zu sammeln. Adams bat seinen Freund Graham Champion, einen Lobbyisten in Montgomery und Past Präsident des Rotary Clubs Montgomery, um Mithilfe. 

Das Projekt ging nur langsam voran. Champion musste jeden, mit dem er sprach, erst über das bedeutsame Werk von Tuskegee aufklären. „Die Leute bringen die Tuskegee-Forschung in erster Linie leider nur mit dem Tuskegee-Syphilis-Projekt in Verbindung“, sagt er. „Nicht mit etwas wirklich Gutem. Nicht mit der Forschung von George Washington Carver über Erdnüsse oder im Bereich der Agrarwissenschaft. Für sie ist Tuskegee nur ein kleines schwarzes College. Dabei ist es eine wirklich phänomenale Institution.“ 

Champions unermüdliche Arbeit zahlte sich aus und mit seiner Hilfe wurden 177.000 Dollar gesammelt. Mehr als die Hälfte dieser Summe kam aus staatlichen Mitteln von Alabama, der Rest wurde von Einzelpersonen, Stiftungen, Rotary Clubs, District Grants von Distrikt 6880 und anderen Organisationen gespendet.  

Im August 2022 wurde die Bronzestatue, die Dr. Chenault, die Krankenschwester Warrena Turpin und einen Polio-Patienten namens Gordon Stewart darstellt, vor dem ehemaligen Infantile Paralysis Center, dem heutigen Legacy Museum, enthüllt. Thompson, Angehörige der Wissenschaftler und Forscher, führende Vertreter von March of Dimes, Lehrkräfte und Angestellte der Tuskegee University, Staatsbeamte und die für das Projekt verantwortlichen Rotary-Mitglieder wohnten der Zeremonie bei. 

Für McNeal war dieser Moment wie das Einfügen des letzten Teils eines Puzzles mit 1.000 Teilen, an dem er jahrelang gearbeitet hatte (auch wenn er das Schwimmbad nie finden konnte). Jetzt wird das Denkmal diese Männer und Frauen für ihr Engagement und ihren Dienst für alle Zeit ehren. „Das ist ein gut gehütetes Geheimnis“, sagt McNeal. „Das Denkmal und die Statue lassen diesen Ort wirklich lebendig werden."


Das Werk der Ärzte und Wissenschaftler von Tuskegee lebt in den Menschen wie Thompson weiter. Er ist jetzt Richter an einem Bundesbezirksgericht der USA. Während einer Videokonferenz im Januar saß er in seinem Gerichtssaal in Montgomery, einem Ort, der wegen seiner großen Bedeutung für die Geschichte der Bürgerrechte als America's Courtroom bezeichnet wird. Und er dachte darüber nach, wie Polio sein Leben verändert hat. Als Kind konnte er wegen seines behinderten Beins nicht laufen. Also passte er sich an seine Lebenssituation an. Er fuhr mit dem Fahrrad und wurde ein schneller Schwimmer. Er fand Trost und Freude in Büchern, im Lernen und Studieren und in der Musik. Er entwickelte innere Stärke und Widerstandskraft. Und er war allen, die ihm auf seinem Weg geholfen haben, überaus dankbar. Heute schreitet er stolz und hinkt nur ganz leicht.

Das Werk der Ärzte und Wissenschaftler des Tuskegee Institute lebt in den Menschen wie Myron Thompson weiter. „Sie haben diese phänomenale Arbeit geleistet“, sagt er. Foto Nicole Craine.

TBis vor kurzem wusste Thompson nichts über die wichtige Rolle von Tuskegee bei der Entwicklung des Polio-Impfstoffs. Aber als er das erste Mal davon hörte, war er nicht überrascht. Schließlich kannte er einige dieser brillanten Wissenschaftler persönlich. Viel mehr beeindruckt ihn, dass sie diese Fortschritte in einer so schwierigen Zeit erzielen konnten. „Sie haben diese phänomenale Arbeit geleistet“, sagt er. „Das ist einfach unglaublich, wenn man bedenkt, wie groß der Widerstand damals war.“ 

Nach seinem Jurastudium an der Yale Law School kehrte Thompson 1972 nach Alabama zurück. Er wurde der erste schwarze stellvertretende Generalstaatsanwalt des Bundesstaates und später der erste schwarze Examensprüfer für angehende Anwälte. Mit nur 33 Jahren wurde er von Präsident Jimmy Carter zum Bundesbezirksrichter für den Middle District von Alabama und damit zum erst zweiten schwarzen Bundesrichter in diesem Bundesstaat ernannt. Er führte den Vorsitz bei historisch wichtigen Prozessen und leitete unter anderem den vielbeachteten Fall aus dem Jahr 2002, in dem Thompson den Obersten Richter des Alabama Supreme Court Roy Moore anwies, eine steinerne Tafel mit den Zehn Geboten aus seinem Gerichtssaal zu entfernen. 

Thompson begründet seine Interpretation des Rechts, und wie es den Menschen dienen sollte, mit seinen eigenen gesundheitlichen Erfahrungen. Er sei kein Anhänger der Philosophie, wonach jeder sich selbst aus der Patsche helfen solle, weil diese mit seinen Erfahrungen nicht übereinstimme: „Wir alle verdanken unsere Existenz den Opfern, die von unseren Müttern, unseren Vätern, unseren Tanten, unseren Großvätern, unseren Nachbarn, unserer ganzen Gemeinschaft, erbracht wurden. Zusammen machen sie uns zu dem, wer wir sind. Viele andere Menschen haben mich auf ihren Schultern getragen, und dafür bin ich sehr dankbar.“ 

Als Thompson zum ersten Mal das Polio-Denkmal und das vertraute Gesicht des Arztes aus seiner Kindheit Dr. Chenault sah, fühlte er eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass die wichtige Arbeit seiner Heimatstadt endlich die verdiente Anerkennung fand. 

Er hofft, dass das Wort „Tuskegee“ bei den Menschen irgendwann nicht mehr nur negative Assoziationen hervorrufen wird. Sondern dass man es mit den schwarzen Ärzten und Wissenschaftlern in Verbindung bringt, die allen Widrigkeiten zum Trotz einen erheblichen Beitrag zur Ausrottung der Kinderlähmung leisteten.

Aus: Rotary Juni 2023

Helfen Sie uns, die Kinderlähmung für immer zu besiegen.