Eine Universitätspräsidentin und ein Rotary Club haben der Terrororganisation Boko Haram in Nigeria den Kampf angesagt – indem sie den Opfern helfen
Margee Ensign hörte die Nachricht in ihrem Büro der American University of Nigeria in der staubigen Stadt Yola im Nordosten des Landes: ein paar hundert Kilometer weiter nördlich hatten Angehörige der Terroristenorganisation Boko Haram 300 Mädchen eines Internats aus dem Schlaf gerissen und entführt. Frau Ensign hatte als Präsidentin der noch jungen Universität bereits die Auswirkungen des Terrors in Nigerias Norden erfahren müssen. Die Stadt Yola war randvoll mit Flüchtlingen. Gemeinsam mit den Freunden ihres Rotary Clubs mobilisierte Frau Ensign ein Lebensmittelprogramm, um die fast 400.000 Menschen zu versorgen.
Kurz nach der Nachricht von dem brutalen Kidnapping bat eine Frau um ein Gespräch mit Präsidentin Ensign. Sie saß in deren Büro und erzählte schließlich, dass ihre Schwester eine von 58 Mädchen war, die entkommen konnte, indem sie im Schutze der Nacht von den Lastwagen der Boko Haram sprangen und sich im Busch versteckten.
Frau Ensign begann sofort, die Familien dieser Mädchen zu kontaktieren, um ihnen einen Platz an der Universität, zu der auch eine Oberschule gehört, anzubieten. 27 Mädchen entschlossen sich schließlich, der Einladung zu folgen. Am 30 August – vier Monate nach dem Überfall – machte Ensign sich in die Konfliktzone auf, um die Mädchen abzuholen. „Wir begaben uns wissentlich in gefährliches Territorium“, sagt Lionel Rawlins, Chef des Sicherheitsdienstes der Universität. „Wir fuhren direkt in Boko-Haram-Gebiet, um ihnen die Mädchen unter der Nase wegzunehmen. Am Morgen der Abfahrt gingen wir zur Polizeistation und fragten: Fertig? Da hörten wir, dass die Polizei die Exkursion aus Sicherheitsgründen nicht begleiten könnte. Es sei zu gefährlich, hieß es. Also ging ich zurück zu Margee und sagte ihr, dass wir auf uns allein gestellt sein würden. Wir schauten uns an, und ich wusste genau, was sie sagen würde. Sie sagte: ‚Wenn Du bereit bist, bin ich auch bereit. Lass uns die Mädchen holen.‘“
So ein Abenteuer war nicht gerade, was sich Margee Ensign vorgestellt hatte, als sie 2010 nach Yola kam. Als Pädagogin und Verwaltungsfachfrau hatte sie die Leitung der 2004 gegründeten American University of Nigeria (AUN) übernommen. Die Hochschule war seinerzeit von Atiku Abubakar, dem ehemaligen Vizepräsidenten Nigerias und einem Multimillionär, ins Leben gerufen worden. Abubakar wählte dabei Yola als Standort, weil es sich in einem der ärmsten Bundesstaaten Nigerias befindet. Die Arbeitslosigkeit beträgt 80 Prozent, drei Viertel der Bevölkerung sind Analphabeten, fast die Hälfte (47 Prozent) haben Wachstumsstörungen wegen chronischer Unterernährung.
Das Job-Angebot war damals lockend: Abubakar wollte die AUN als eine Entwicklungsinstitution betreiben, die ihren Wissenstransfer auf die armen Gegenden des Umfelds konzentrieren würde – etwa in der Art, wie amerikanische „Land Grant“-Universitäten seinerzeit pragmatisch-landwirtschaftliches Wissen an Farmer vermittelten.
„Ich hatte nie zuvor in Westafrika gearbeitet“, erzählt Ensign. „Es war eine riesige Herausforderung. Die Komplexität und der Umfang des Projekts, die Größe des Landes, die Dimension der Probleme. Aber ich dachte immer, vielleicht ist das die Chance, die nächste Führungsgeneration dieses wichtigen Landes auszubilden. Schließlich wird Nigeria 2050 das drittgrößte Land der Erde sein.“
Margee Ensign hatte lange über Entwicklungsfragen geforscht und doziert, bevor sie nach Nigeria kam. 1993 unterrichtete sie in Washington, D.C., als einer ihrer Studenten, Bonaventure Niyibizi, zu ihr kam und ihr mitteilte, dass er heim nach Ruanda fliegen müsste, weil er um das Wohl seiner Familie fürchtete. Sie verabschiedete den Studenten am Flughafen. Vier Monate später begann das Morden in Ruanda: in nur 100 Tagen wurden fast eine Million Menschen von ihren Nachbarn bestialisch umgebracht.
Für die Weltöffentlichkeit war das eine schlimme, aber weit entfernte Nachricht. Doch für Frau Ensign hatte der Konflikt Namen und Gesichter, die sie nicht vergessen konnte. 1999 flog sie nach Arusha (Tansania), um dort an einem internationalen Tribunal der UNO zu Ruanda teilzunehmen. Dort erfuhr sie auch, dass Niyibizi lebte und für die neue ruandische Regierung arbeitete.
In den folgenden zehn Jahren war Ensign Dekan der School of International Studies an der University of the Pacific in Kalifornien. Doch sie verbrachte fast jeden Sommer in Ruanda, um dort Entwicklungsprojekte voranzutreiben, darunter auch die Etablierung der Universität Ruanda.
Zu gleicher Zeit erforschte sie, wie sich dieses Land von einer der größten menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts so schnell erholen und zu einer wachsenden und stabilen Wirtschaft entwickeln konnte. Eine wesentliche Rolle in diesem Prozess spielte die Aussöhnung zwischen der Seite der ehemaligen Mörder und den Familien der Getöteten.
„Jeder in Ruanda kennt Margee wegen ihrer Arbeit“, betont auch Mathilde Mukantabana, ruandische Botschafterin in den USA. „Sie war eine der ersten, die uns half, eine Konferenz zum Genozid zu organisieren. Sie gab nicht auf. Sie war eine derjenigen, die sowohl auf persönlicher als auch institutioneller Ebene Ruanda beim Heilungsprozess half. Sie ist Teil unserer Geschichte.“
Als Margee Ensign 2010 zum ersten Mal in Yola ankam, war es Regenzeit und alles war grün. Kein Anzeichen der kommenden Hitze, des Staubs aus der Sahara – oder der Mörderbanden im Norden. Kurz nach der Ankunft gründete sie auch die AUN-Abteilung des Rotary Clubs Yola, denn sie wusste, dass sie damit die Motivation und das lokale Engagement ihres Lehrkörpers fördern würde. Auch führte sie einen Pflichtkurs in Gemeindeentwicklung für die Studenten ein.
Dann rief sie einen alten Kollegen an: Lionel Rawlins, Experte in der Terrorbekämpfung, auf St. Kitts in der Karibik geboren, zu der Zeit als Spezialausbilder für Truppen in Irak und Afghanistan tätig. Er ließ sich überzeugen, nach Yola zu kommen, um Kriminologie zu unterrichten – vor allem aber, um aus dem Sicherheitspersonal der Universität eine professionelle Sicherheitstruppe zu machen.
Dann, im Januar 2012, weniger als zwei Jahre nach ihrem Amtsantritt, die erste Krise: die nigerianische Regierung kündigte über Nacht alle Brennstoffsubventionen. Proteste, Unruhen, Ausschreitungen waren die Folge.
Frau Ensign und Ahmed Yoda, prominenter muslimischer Führer der Gemeinde und Vorsitzender des Aufsichtsrates der Universität, trafen sich. „Wir sagten: Wir müssen etwas tun. Wir müssen etwas in der Gemeinde aufbauen.“ Also luden sie jeweils Bekannte zu einem Treffen an der Uni ein. Was als eine Diskussion begann, wuchs in der Folgezeit in die Adamawa Peace Initiative (kurz API).
„Nachdem wir die 5.000 versorgt hatten, dachten wir, das Problem wäre gelöst ... doch bis Juli wuchs die Zahl von 5.000 auf 20.000 - und im September waren es auf einmal zehnmal so viele Flüchtlinge.
Margee Ensign,
Rotarierin und Präsidentin der American University of Nigeria
Die Gruppe beschloss, sich auf die Hilfe für Jugendliche zu konzentrieren. In Yola lebten fast 2.000 Waisenkinder, dazu 40.000 almajiri, Kinder, die von ihren Familien zum Koranstudium fortgeschickt worden waren. Diese Kinder waren oft am Eingangstor der Universität zu sehen, um zu betteln. Natürlich waren sie auch ein hervorragendes Ziel für Rekrutierungsversuche der Terroristen.
Das erste große Programm der API hieß „Frieden durch Sport“ und organisierte die Jungen und Mädchen aus verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen in „unity teams“ – Einheitsteams. In diesen Gruppen spielten, aßen, lebten und lernten sie zusammen. Eine echte Alternative – und die einzige am Ort. Wie ein Junge sagte: „Es war entweder dieses Programm oder Boko Haram. Sonst gab es hier nichts.“
Im Frühjahr 2014 kam die nächste Krise, als Truppen der Boko Haram Städte im Norden des Landes angriffen, Häuser niederbrannten und Mädchen als Sklavinnen entführten. Damit lösten sie einen Flüchtlingsstrom aus dem Norden aus, der auch nach Yola kam.
Ensign, Rawlins und Rotarier Abdullahi Bello fuhren nach Mubi, etwa 120 Kilometer nordöstlich, um dort über das Schicksal von Hunderten von Frauen und Kindern zu erfahren, die vor den Kämpfen geflüchtet waren. Nun füllten die Flüchtlinge auch Yola. Im Juni 2014 waren es 5.000. Universität, API und Rotary Club sammelten für die Menschen, damit diese Saatgut kaufen und Schulgebühren bezahlen konnten.
„Nachdem wir die 5.000 versorgt hatten, dachten wir, das Problem wäre gelöst, denn das ist eine Riesenzahl“, erinnert sich Margee Ensign. „Doch bis Juli wuchs die Zahl von 5.000 auf 20.000 und im September waren es auf einmal zehnmal so viele Flüchtlinge.“
Die Stadt war völlig überfordert, die Regierung tat – nichts. Vertreter internationaler Hilfsorganisationen waren noch nicht vor Ort angekommen (und als sie schließlich doch eintrafen, waren ihre Aktionen nach einem internen Universitätsbericht „inadäquat und fehlgeleitet“). Was also tun? Ensign und ihre Freunde trieben mehr Geld auf, das über die API für Lebensmittel ausgegeben wurde. Nur so erhielten die Menschen in und um Yola Reis, Bohnen, Mais, Öl, Decken, Zucker, Salz, Hirse, Nudeln, Seife. Sie vergaben Kleingeld für Busreisen. An den Verteilerstellen standen Zehntausende Schlange.
In der Zwischenzeit rückten die Einheiten der Boko Haram immer näher. Im Oktober 2014 fiel Mubi in ihre Hände und der Flüchtlingsstrom wurde zur Flut. Im Frühjahr 2015 lebten 400.000 Flüchtlinge in Yola. Die Angst, dass die Rebellen auch hier einmarschieren könnten, war groß. „Wir hatten schlaflose Nächte“, sagt Lionel Rawlins. Alle Schulen waren geschlossen, alle rannten. Nur wir blieben geöffnet.“
In einer massiven Anstrengung arbeiteten die Universität, die API, muslimische, christliche und andere religiöse Führer zusammen, um dafür zu sorgen, dass niemand verhungerte. Niemand hatte dabei groß Zeit, über ihr Tun nachzudenken. Ensign: „Es hieß einfach: Geld sammeln, Lebensmittel kaufen, an die Menschen verteilen. Sechs oder sieben Monate lang hielten wir so die Tausenden von Menschen in den Straßen am Leben.“
Eine wichtige Lektion aus dieser Zeit kann Frau Ensign schon jetzt anbieten: „Wir versorgten in Yola die gleiche Anzahl von Flüchtlingen, die sich jetzt auch in Teilen Europas befinden und nicht nur dort. Und die reichen Länder sagen, es wäre unmöglich, für diese Flüchtlinge zu sorgen. Und wir sind eine der ärmsten Kommunen der Welt, aber irgendwie haben wir es auch hingekriegt.“ Im November 2014 endlich eroberte die nigerianische Armee Mubi zurück und begann, Boko Haram besetzte Gebiete wieder abzunehmen. Flüchtlinge konnten nach Hause zurückkehren, zumindest geografisch – denn was ihr Zuhause gewesen war, war nun verbrannt und zertrümmert. Krankenhäuser, Schulen, Banken, Bauernhöfe – alles zerstört. Es würde eine lange, lange Zeit vergehen, bis Wunden heilen und hier wieder ein normales Leben möglich werden würde.
Wir hatten schlaflose Nächte.
Lionel Rawlins,
Assistant Vice President for Safety and Security, American University of Nigeria
Um das Heilen zu unterstützen, erweiterte die API ihre Ziele um ein wichtiges Ziel: Wiederversöhnung. „Meine Erfahrungen in Ruanda hatten gezeigt, dass der Wiederaufbau von Gebäuden, Schulen usw. wichtig ist. Doch noch wichtiger ist es, den Menschen dabei zu helfen, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten.“ Vor einem Jahr fuhren Ensign und andere API-Mitglieder in den Ort Michika, der lange besetzt gehalten war. Dort teilten sie die Bewohner in Gruppen ein: junge Männer, junge Frauen, traditionelle Führer, Milizen, Jäger. Sie ließen alle ihre Geschichten erzählen und ihren Kummer loswerden. Dann kam die Begegnung. „Zunächst betonten die religiösen Oberhäupter, dass alles gut sei“, berichtet Ensign. „Kein Problem mit meinem muslimischen Nachbarn, kein Problem mit meinem christlichen. Doch wenn man etwas nachhakte, kam die Bitterkeit heraus, zeigten sich die Verletzungen. Zum Schluss, und das mag sich vielleicht albern anhören, waren dort ein Imam und ein Bischof, die sich schließlich umarmten. Eine sehr, sehr wichtige, öffentliche Geste.“
Heute sind die Mädchen aus Chibok noch in Yola. Zwei kehrten nach Hause zurück, um zu heiraten, eine weitere hörte auf, doch 24 Mädchen sind immer noch an der AUN. Sechs der Mädchen leben direkt auf dem Campus und studieren verschiedene Fächer, von Informatik bis Umweltschutz. „Die Ausbildung gibt mir Flügel, Kraft für den Kampf und eine Stimme“, sagt eine der Studentinnen. Eines Abends, als die Mädchen bei Margee Ensign zum Essen sind, fällt ihr eines auf: „Das Gelächter. Junge Frauen überall, mit ihren Telefonen, sie lachen, scherzen, umarmen sich. Ein so fröhlicher Abend.“
Und doch ist der Krieg mit seinen Problemen nie weit weg. Sporadische Attacken, Selbstmordattentate, eine zerstörte Ernte, kein Saatgut, Hunger. UNICEF warnt, dass 65.000 Menschen in „hungersnotähnlichen Umständen“ leben, 4 Millionen Menschen leiden Hunger. Die Organisation International Rescue Committee schätzt, dass 5 Millionen Menschen dringend Hilfe brauchen. Es könnte eine der größten Hungersnöte der Geschichte werden, fürchtet Ensign.
Die Adamawa Peacemakers Initiative erhielt den Preis 2016 Tomorrow's Peacebuilders von Peace Direct, einer Friedensorganisation mit Sitz in London, die Friedensinitiativen in Konfliktregionen unterstützt. API erhielt dazu 10.000 USD für ihre Programme.
Also tun die Universität, die Rotarier und die API krisenerprobt das, was sie vorher getan haben: sie kümmern sich um ihre Stadt. Das Peace through Sports-Programm wurde erweitert und besteht nun auch in Mubi und weiteren Städten. Über 5.000 Jugendliche machen in dem Aussöhnungsprogramm mit. In Yola bietet die Universität einen achtwöchigen Kursus zu Informations- und Kommunikationstechnologie an, dazu einen Wissenschaftskurs namens „Whiz Kids“. Ein mit USAID-Hilfe finanziertes Projekt unterrichtet 22.000 Kinder per Radioshow und Tablets im Fernstudium – der Code für die Apps wurde dabei von AUN-Studenten geschrieben! Andere Programme haben über 1.000 Frauen ausgebildet, ihre Erzeugnisse auf dem Markt zu verkaufen. Und schließlich ist da Feed and Read, ein Programm, das Mahlzeiten für Kinder nebst Unterricht in Mathe und Englisch anbietet.
1.500 Studenten sind heute an der AUN eingeschrieben, bei Amtsantritt vor sieben Jahren waren es noch 1.100. Kürzlich kam eine Rechtsfakultät dazu, ein Ingenieursstudiengang ist geplant, danach soll eine medizinische Fakultät kommen.
Abdullahi Bello hat das letzte Wort über Margee Ensign: „Wir hatten vorher zwei Universitätspräsidenten. Doch Margee hat die Uni zu dem gemacht, was sie heute ist. Mit ihrer Energie, ihrer Innovationskraft, ihrem lokalen Engagement. Und sie hat uns gezeigt, dass es keinen Fortschritt geben kann, wenn man glaubt, den Weg allein gehen zu können. Wir müssen uns vereinen, damit es vorwärtsgehen kann.“