Nach Bewältigung seiner eigenen schwierigen Kindheit hilft Kinderarzt Ramon Resa beim Aufziehen einer neuen Generation von Kindern
Im Alter von drei Jahren, wenn die meisten Kleinkinder daran gemessen werden, wie weit sie zählen können oder wie gut sie das ABC aufsagen können, wurde Ramon Resa an anderen Maßstäben gemessen: wieviel Baumwolle er in den Feldern Zentralkaliforniens stapeln konnte.
Und viele Jahre lang wurde ihm der Eindruck vermittelt, seine Leistungen bei der Baumwoll-, Walnuss- und Orangenernte seien ungenügend. Dieser Eindruck wurde von manchen verstärkt, die als seine Mentoren und Begleiter in Frage gekommen wären: Obwohl er die achte Klasse als Jahresbester abschloss, wurde er angewiesen, einen weißen Klassenkameraden die Abschiedsrede halten zu lassen. Ein Betreuer versuchte, ihn in den Bereich Holzarbeit zu schleusen, statt Algebra zu lernen.
Doch Resa setzte sich durch. Wenn Sie ihn heute bei der Arbeit aufsuchen wollen, gehen Sie durch eine Tür, die die Aufschrift Dr. Ramon Resa trägt. Als Rotarier und Kinderarzt im kalifornischen Porterville weilt er nun tagsüber in einer Praxis, die nicht weit von dem winzigen Häuschen, in dem er unter 14 Verwandten aufwuchs, entfernt liegt.
Vom Feldarbeiter zum Kinderarzt
Bei der Arbeit geht Resa zwischen vier Untersuchungsräumen hin und her, wobei er zeitweise täglich mehr als 50 Patienten betreut: ein dreijähriges Kind mit Allergien, ein zweijähriges Kind zur Routineuntersuchung und ein zehnjähriger Junge, der seinen Daumen beim Sport verletzt hat. Resa kitzelt ein Kind leicht, wenn er seinen Hals oder Bauch untersucht und wechselt dabei je nach Bedarf mühelos vom Englischen ins Spanische. „Ich kann besser starren als Du,” witzelt er mit einem entschlossenen Jungen mit einer Nasennebenhöhlenentzündung.
„Er neckt die Babys und Mütter, und stärkt so ihr Vertrauen zu ihm, ” erklärt seine Sprechstundenhilfe Shirley Rowell, die bereits seit 1985, als er als frischgebackener Arzt in Porterville ankam, mit Resa zusammenarbeitet. Die Kinder geben ihm Energie, kehren seine joviale Art hervor, doch gleichzeitig hat er ein sanftes und fürsorgliches Wesen. Rowell erinnert sich, dass Resa, wenn Neugeborene nach einem Kaiserschnitt vom Operationssaal in die Entbindungsstation gebracht wurden, diese stets selbst in seinen Armen trug und mit ihnen sprach. Nie verwendete er Transportwägen. „Natürlich widersprach das dem Protokoll, ” erklärt Resa. „Doch wenn ich die Gelegenheit habe, eine Bindung zum Baby aufzubauen, tue ich das. ”
Während seiner eigenen Kindheit wurden Ärzte nur wegen der schlimmsten Krankheiten gerufen. Resa war das fünfte Kind einer Mutter, die kaum jenseits des Teenageralters war, und er lernte seinen Vater nie kennen. Er selbst und zwei Brüder wurden zu den Großeltern geschickt, bei denen sie wohnen sollten. Die Kinder gesellten sich zu Oma und Opa, Onkeln Tanten und Cousins und schliefen auf Matratzen auf dem Boden, wobei sich alle ein Bad teilen mussten. Ziegen, Schweine und Hühner hausten in einem Seitenhof. Jeder musste seinen Teil beitragen.
Mit sieben oder acht Jahren fühlte er sich „nicht mehr als Kind” - so Resa in seinen 2010 veröffentlichten Memoiren. Er war ein Arbeiter mit einem Lohn von 3 Cent pro Pfund geernteter Baumwolle. Entschlossen, seinen Wert zu beweisen, versuchte er, schneller zu arbeiten als Leute, die um vieles älter waren als er selbst. Doch Alkohol, Streitigkeiten und andere Stressfaktoren umgaben ihn, weshalb sich bei ihm zunehmend Gefühle der Isolation, Unzulänglichkeit und Verbitterung einstellten. Zu Beginn seiner High-School-Zeit stellte sich bei Resa allmählich eine lähmende Depression ein, die ihm die Freude an seinen schulischen und sportlichen Leistungen nahm. Er fürchtete die schlimmen Dinge, die ihm mit Sicherheit bevorstehen würden. Doch dank seinem Intellekt und seiner Zielstrebigkeit schwor er sich, allen Widrigkeiten zum Trotz sein Ziel zu erreichen.
Forschungen haben erwiesen, dass Zielstrebigkeit und Entschlossenheit das Durchhaltevermögen stärken. Unterstützende Vorbilder tun dies ebenfalls. Mehrere entscheidende Personen hielten den jungen Schüler für vielversprechend und sprachen ihm Mut zu: Seine Lehrerin in der vierten Klasse. Eine Frau im Schuldistriktbüro. Und seine Nachbarn Jim und Susan Drake. Jim Drake war ein ausschlaggebender Berater von César Chávez, doch Resa wusste erst einige Jahre später über seine Funktion in der Arbeiterbewegung Bescheid.
Ernest Moreno, ein Freund aus seiner Kindheit, der ebenfalls in einer Landarbeiterfamilie aufgewachsen war, machte sich oft Gedanken darüber, warum er und Resa sich im Gegensatz zu anderen behaupten konnten. „Wir mussten ja denken, dass wir etwas Besonderes waren und nicht in dieses Umfeld gehörten,” erklärt Moreno, der ein Personalberatungsunternehmen im Bundesstaat Illinois leitet. „Wir mussten mit Gleichgesinnten Freundschaften schließen” – erinnert sich Moreno an die zahlreichen Freitagabende, an denen er und Resa Gesellschaftsspiele wie z.B. „Risiko” spielten – „und man musste es wirklich wollen.”
Ein Wendepunkt: Universität Kalifornien, Medizinstudium und Rotary
Resas erster Kontakt zu Rotary ergab sich aus einer club-gesponserten Reise zu einem Spiel des Los Angeles Dodgers-Baseballteams aufgrund guter Noten. Es war seine allererste Reise.
Als Teenager wurde er sich der Vorteile bewusst, die manche seiner Klassenkameraden genossen: Nachhilfe- und Privatunterricht, Urlaube, sowie Studien- und Karriereerwartungen. Doch als ein Tennistrainer ihm kostenlose Privatstunden anbot, lehnte Resa dankend ab. Er musste einer Arbeit nachgehen; seine Familie war auf das Geld angewiesen. Während seines dritten High-School-Jahres musste er eine Zeitlang von der Teilnahme am Geländelaufteam Abstand nehmen, da seine Knie von der Walnussernte so wund waren. Er war erleichtert, als man ihm trotzdem eine offizielle Highschool-Jacke gab und war sich sicher, dass ihn somit andere Schüler als „echte Person und nicht wie Luft“ behandeln würden.
Obwohl Resa den Anforderungen der Universität Kalifornien entsprach, machte ihn niemand an seiner High-School darauf aufmerksam. Stattdessen wurde er gemeinsam mit anderen Landarbeitern auf Berufsschulunterricht am Community College vor Ort verwiesen, bis Personalvermittler des Education Opportunities Programms der Universität Kalifornien Santa Cruz auftauchten.
Während seines ersten College-Jahres an der Universität Kalifornien in Santa Cruz traf Resa bald die Künstlerin Debbie Binger, die seitdem seine Partnerin ist - während seines Medizinstudiums an der UC Irvine, gemeinsam als Eltern und in sonstigen sämtlichen Lebenslagen. Das Paar gab sich das Ja-Wort und ließ sich im kalifornischen Central Valley nieder, wo Resa dem Rotary Club Porterville beitrat. 1990 wurde er Clubpräsident.
Allerdings machten ihm immer noch Gefühle der Unzulänglichkeit aus seiner Kindheit zu schaffen. „Ich gehörte nicht an die Spitze dieser Leute,” sagt er. „Ich kam mir vor wie ein einfacher Landarbeiter, der so tut, als sei er ein Arzt.”
Doch auch bei seiner Familie fühlte er sich fehl am Platze. „Er durchlief eine Phase, in der er sich nirgendwo zugehörig fühlte,” erklärt Debbie. Schließlich konnte sie ihn davon überzeugen, wegen seiner Depressionen einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Diese Therapie mitsamt seiner Religion, half ihm, seine Bitterkeit zu überwinden und sich darüber klar zu werden, dass seine Familie das Bestmögliche für ihn getan hatte.
Offenbarung seiner Kindheit
Ende 1990 hatte ein Frost verheerende Auswirkungen auf die Zitrusfrüchteindustrie des Central Valley und verursachte Schäden in Höhe von nahezu 1 Milliarde USD. Laut Resa wussten die Rotarier, was diese Katastrophe für die Landwirte, die anderen Entscheidungsträger in ihrer Gemeinde, bedeuten würde. Allerdings wusste Resa außerdem, was der Frost für die Landarbeiter - mindestens 100.000 wurden arbeitslos - und ihre Familien bedeutete. Er wusste, dass sein Rotary Club zu Hilfe eilen konnte.
Doch zunächst würde er ihnen seine eigene Geschichte offenbaren müssen.
„Also erzählte ich am Podium, wie ich ohne Essen auskommen musste, auf Spenden angewiesen war und hungrig zu Bett ging,” sagt er. „Ich schämte mich meiner Herkunft. Ich erzählte Rotary erst dann davon, als ich mich für die Versorgung der Landarbeiter mit Essen einsetzen wollte.”
Seine Rotarierfreunde reagierten unverzüglich. Spenden zur zwischenzeitlichen Versorgung der Landarbeiterfamilien trafen ein. Ken Boyd, der damalige Governor von Distrikt 5230, der bei diesem Treffen anwesend war, hatte von der Kindheit, die sein Freund durchgemacht hatte, keine Ahnung gehabt. Er machte dies damals in allen 44 Clubs in seinem Distrikt bekannt.
Mehr über den Dokumentarfilm zu Resas Leben erfahren Sie unter ramonrising.film.
Heute erzählt Resa seine Geschichte im ganzen Land - Teenagern und Rotariern, Lehrern und Gastarbeiter-Fürsprechern, bei Rotary-Jugendseminaren (RYLA) und an medizinischen Hochschulen. Er schrieb ein Buch über seine persönlichen Erinnerungen, und ein Dokumentarfilm über sein Leben befindet sich in Produktion.
Öffentliches Reden ist ihm jedoch immer noch äußerst unangenehm - zumindest bis es vorbei ist. Allerdings findet er es seinen eigenen Bekundungen nach sehr schön, wenn er jedes Mal von mindestens einer Person eine Geschichte von Durchhaltevermögen erzählt bekommt: eine Kindheit im Crack-Haus oder mit einer schlimmen Lernschwäche. Ein Stottern wie das, mit dem sich Resa herumplagte.
„Er wirkt auf Kinder ein, indem er ihnen versichert, dass sie alles erreichen können, was sie wollen,” erklärt Boyd. „Und wenn Sie daran glauben, gelingt es ihnen auch.”
Nina Clancy, ebenfalls ehemaliger Governor, gehört zu denen, die Resa dazu anhalten, auch weiterhin anderen seine Geschichte zu erzählen. „Noch nie ist mir jemand begegnet, der so viel Mut hat und so inspirierend wirkt,” sagt sie. „Seine Lebenslust ließ sich einfach nicht bezwingen.”
Akzeptanz der Vergangenheit, und Blick nach vorne
Privat haben die Resas bereits zwei erwachsene Kinder: Marina ist Schauspielerin in Los Angeles, und Joshua ist ein Forschungsstipendiat in der pädiatrischen Onkologie. Resa wartet mittlerweile weniger geduldig darauf, Großvater zu werden. Bei seinem Rotary-Treffen spricht er scherzweise über seinen Neid auf Rotarierfreunde, die Enkel haben. Bei der Arbeit fragt er, einen Säugling im Arm haltend, „Darf ich ihn behalten?”
Doch lange Zeit hielt Resa Abstand zum Rest seiner Verwandtschaft. Viele seiner Familienmitglieder reagieren überrascht auf Teile seiner Memoiren; manche haben das Erzählte anders in Erinnerung. Andere verrieten ihm, dass sie durch „Out of the Fields” die Familie und ihn selbst besser kennenlernten. Sein Onkel Esmael, eines der Kinder in seinem Elternhaus, erklärt, „Es fühlte sich an, als hätte er mich geohrfeigt, so geschockt war ich.” Ich dachte, ich wüsste alles über ihn.”
Vor kurzem trafen sich 20 Mitglieder seiner Familie abends im Restaurant Round Table Pizza in Visalia und saßen dort an zwei großen Tischen, wo überschwänglich Geschichten erzählt und Neuigkeiten ausgetauscht wurden. Geschichten über vergangene Schufterei werden mit dem größten Gelächter belohnt, doch die Frage, ob diese Erfahrungen damals auch witzig waren, wird mit einem einstimmigen „Nein” beantwortet.
Doch selbst als Kind beeindruckte Resa die Schönheit seiner Umgebung: „Was mir am Orangenpflücken wirklich gefiel, war der spektakulärer Anblick der Orangenhaine,” sagt er. Während er an den Feldern vorbeifährt, wo er einst arbeitete, durch die Häuserblöcke, wo er seine Kindheit verbrachte und an Hallen vorbei, wo Obst und Gemüse verpackt wird, an Straßen mit den Namen Olive und Orange entlang deutet Resa auf die schneebedeckten Gipfel in der Ferne, die Walnussbaum-Bestände und die bis an den Horizont reichenden Obst-trächtigen Zitrusfruchthaine
„Am meisten bedauere ich, dass ich nicht zurückgegangen und die nächste Generation meiner Familie inspiriert habe,” sagt er. „Ich habe die Brücke nicht abgebrochen. Doch habe ich sie nur sehr selten überquert.” Wild entschlossen, seine Kinder davor zu bewahren, hielt er sie von Verwandten fern, die mit Drogen oder Banden zu kämpfen hatten.
Doch diese Beziehungen werden wiederhergestellt. Eines Morgens schaut er bei Rosa, seiner Schwester, vorbei. Dort bedient er sich an hausgemachten Tortillas, Kartoffeln und Chorizo-Wurst. „Nichts schmeckt besser als eine in einen Topf heißer Chili eingetunkte Mais-Tortilla mit einem Hauch von Eisengeschmack des Topfes, insbesondere an einem kalten Wintertag,” sagt er.
Dieser Tage ist Resa in der Lage, ohne Verbitterung an die besten Erinnerungen zurückzudenken.
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