Seit 1000 Jahren fertigen die Marinellis Glocken in Handarbeit an. Jetzt haben sie eine für die Rotary Foundation gegossen.
Eine Szene wie aus dem Mittelalter: hochaufgetürmte Holzscheite, von der Decke hängende Lehmglocken, weiße Gipsreliefs mit Madonnen und Heiligen an den Wänden. Sonnenlicht strömt durch ein Fenster auf einen Priester, der Weihwasser verspritzt und dabei eine Litanei der Jungfrau Maria singt. Die anderen im Raum antworten wiederholt mit „prega per noi“ – „bete für uns“. In der goldfarbenen Stola des Priesters spiegelt sich die von ihm gesegnete glühend heiße Bronzeschmelze wider, die über eine Gussrinne aus Ziegeln in die in den Boden eingegrabene Glockenform läuft.
Wir befinden uns aber nicht im Mittelalter, sondern im Jahr 2017. Wir sind nach Agnone in Italien gereist, um der Geburt einer Glocke beizuwohnen, bei der eine tausendjährige Tradition in zwei spannungsgeladenen Minuten ihren krönenden Abschluss findet. Anschließend sagt Armando Marinelli ein paar Worte und schüttelt die Hände der im Raum Anwesenden, die dem Gießen der neuesten Glocke in der tausend Jahre alten Gießerei zugeschaut haben. Armando und sein Bruder Pasquale betreiben die Gießerei in der 26. Generation. Sie ist das zweitälteste Familienunternehmen in der Welt.
Agone ist drei Stunden mit dem Auto von Rom entfernt. An diesem warmen und sonnigen Frühlingstag rauschen wir vorbei an Kakteen und Palmen, bevor der kurvenreiche Aufstieg durch das Hügelland im südlichen und zentralen Teil Italiens beginnt. In den höheren Lagen wird die Luft frischer und weidende Schafe und Kühe säumen die Straße. Wir fahren zu einem Dorf mit 5.200 Einwohnern, um der Geburt einer Glocke beizuwohnen, die zu Ehren des hundertjährigen Jubiläums der Rotary Foundation gegossen wird.
„Alles ist hier noch vom Handwerk geprägt“, meint Armando Marinelli, Mitglied und Past Präsident des Rotary Clubs Agnone über seinen Heimatort bei einem Mittagessen aus Käse, Dörrwurst und Pizza con i cicoli (Focaccia mit Speckschwarte, einer regionalen Spezialität). Wir sitzen in einer Baita – einer gemütlichen Berghütte, wo sich die Gäste ihr Essen selbst in der Küche abholen. Agnone ist berühmt für seine Glockengießerei (an diesem Abend werden uns in einem anderen Restaurant Ravioli in Glockenform serviert). Hier gibt es aber auch Käsereien, die seit über 400 Jahren im Geschäft sind, und Bäckereien mit so speziellen Backwaren, dass Armando Marinelli am Brot erkennen kann, aus welcher Bäckerei es stammt.
„Die Gießerei ist eine Touristenattraktion. Wenn sie hierherkommen, kaufen die Touristen auch Käse und essen in den Gaststätten“, erklärt Luigi Falasca, Governor 2013/14 des Distrikts 2090. Auch er wohnt in Agnone und ist Mitglied des dortigen Rotary Clubs. „Das ist ein wunderschöner und geschichtsträchtiger Ort aus dem Mittelalter. Doch ist er hauptsächlich wegen seiner Glockengießerei bekannt.“
In der Gießerei wurde Antonio Marinelli auch mit Rotary bekannt gemacht. Als Kind sah er rotarische Governors ins Büro kommen, wo sie Glocken für ihre Rotary Clubs bestellten. Er erinnert sich noch gut an die vornehm gekleideten Menschen, über die sich sein Vater und Onkel unterhielten, hatte aber keine Vorstellung, wer sie waren. Später wurde ihm klar, dass diese Rotarier alle die gleichen Werte zu haben schienen: Ehrlichkeit, Selbstlosigkeit und Mitgefühl. Auch er wollte so ein Mensch sein. Deshalb gründete er 1988 einen Rotary Club in Agnone.
„In Rotary zieht man gemeinsam am selben Strang, hat dasselbe Ziel und steht Freundschaft über allen anderen Werten“, fügt er hinzu. „Und Freunde schaffen es, selbst große Hindernisse uneigennützig zu überwinden.“
Über der Ahnentafel im Museum der Gießerei steht der Name Nicodemus Marinelli. Die von ihm signierte Glocke aus dem Jahr 1339 ist das früheste Relikt der Marinellis. Eine andere Glocke in der Ausstellung stammt aus dem 13. Jahrhundert, und auch hier wird vermutet, dass sie von der Familie gegossen wurde. In einem Museumsflügel skizzieren die ausgestellten Artefakte die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Eine Glocke erinnert an die Präsenz von Italien in Eritrea. Eine andere Glocke wurde für den Wiederaufbau der im 2. Weltkrieg zerstörten Abtei Montecassino angefertigt. Ebenfalls ausgestellt sind einige der vielen Patronenhülsen, die 1998 von albanischen Kindern gesammelt und zu einer Friedensglocke verschmolzen wurden.
Nach Ansicht der Gelehrten haben venezianische Kaufleute im 11. Jahrhundert die Schmiedekunst nach Agnone gebracht und sind die vielen dort ansässigen Klöster für die Ausbreitung der Glockengießer verantwortlich, erklärt die Bildhauerin der Gießerei und Armando Marinellis Ehefrau Paola Patriarca. In der Anfangszeit wurden die Glocken in den Kirchen gegossen, meistens direkt unter dem Glockenturm. So mussten schwere Werkzeuge und Materialien nicht erst transportiert werden. Alle Materialien stammten aus der Umgebung. Treue Gemeindemitglieder steuerten die Metalle bei, die für die Glocken eingeschmolzen wurden. (Auch heute kommt es noch vor, dass jemand einen besonderen Ring oder ein Erinnerungsstück in die Schmelze wirft, damit es Teil der Glocke wird.)
In einem anderen Flügel des Museums steht die Beziehung der Marinellis mit dem Vatikan im Mittelpunkt. Im Jahr 1924 erließ Papst Pius XI. zu Ehren der Gießerei ein Dekret, dass die Abbildung des päpstlichen Wappens auf ihren Glocken genehmigte. 1995 segnete Papst Johannes Paul II. eine neu gegossene Glocke. Der goldgerahmte Stuhl, auf dem er dabei saß, ist noch heute in einer Ladenfront in Agnone zu sehen. Papst Johannes Paul II. gab eine Glocke für das Jubeljahr 2000 in Auftrag. Und für das Jubeljahr 2016 stellte die Gießerei eine Glocke und neue Bronzetüren für die Päpstliche Basilika Santa Maria Maggiore für Papst Franziskus her.
Obgleich die meisten Glocken der Gießerei Martinelli für katholische Kirchen in Italien bestimmt sind, findet man sie auch im UN-Gebäude in New York City und auf einem Golfplatz im japanischen Sapporo. Im kalifornischen Bodega ehrt eine Glocke einen Jungen, der bei einer versuchten Autoentführung im Familienurlaub in Italien ums Leben kam und dessen Tod dort eine Bewegung für die Organspende auslöste. Und im RI-Zentralbüro in Evanston befindet sich eine Glocke, die dem 100. Jahrestag von Rotary International 2005 gewidmet wurde.
Dennoch macht sich Armando Marinelli Sorgen um die Zukunft. Im 19. Jahrhundert gab es vier oder fünf Glockengießereien in Agnone. Heute ist seine Familie die einzige Gießerei im Ort und eine von wenigen in der Welt, in der Glocken noch von Hand gegossen werden. Es gibt einen Unterschied zwischen handwerklichen und industriell gefertigten Glocken, erklärt Armando Marinelli. Den neuen Glocken in der Kathedrale Notre-Dame de Paris fehlen seiner Ansicht nach wichtige Qualitäten: „Der Klang ist einfach unerreichbar. Sie klingen blechern, unharmonisch. Das ist wie mit allem anderen auch. Wenn man beispielsweise Kleidung kauft, fühlt sich ein Designerhemd ganz anders an und sieht viel besser aus als ein billiges Hemd für 10 Dollar.“
Wer wie die Marinellis 50 Glocken im Jahr gießt, wird nicht reich dabei. Neue Technologien könnten ihre Arbeit leichter machen. In einem Land, in der alte Handwerkskunst hoch geschätzt wird, wäre es aber nahezu unmoralisch, mit einer tausendjährigen Tradition zu brechen.
„Das wäre so, als würden wir ein neues Geschäft anfangen“, erklärt Armando Marinelli. „Man würde uns nicht als Pioniere dieser neuen Techniken sehen, sondern als diejenigen, die mit ihrem Erbe gebrochen haben.“
Die Gießerei beschäftigt 12 Mitarbeiter, zu denen auch Familienmitglieder zählen. Der zuletzt eingestellte Mitarbeiter ist seit 15 Jahren dabei. Der älteste Sohn der Marinellis, Ettore, ist Mitte 20 und gestaltet jetzt die Gussformen für das Unternehmen. Wenn Schulklassen die Gießerei besuchen, werden sie von den Marinellis ermutigt, einen Handwerksberuf zu erlernen: „Ich wünsche mir, dass die neuen Generationen die alten Handwerke wieder aufleben lassen, die nach und nach verloren gehen, wie dieses hier. Das gibt es nirgendwo sonst in Italien.“
In einer Ecke des Getreidespeichers aus dem 19. Jahrhundert, in dem sich die Gießerei befindet, steht eine der Glocken für die Rotary Foundation (es werden mehrere gegossen) im halbfertigen Zustand. Die Wachsdekorationen auf einer Lehmform erzählen die Geschichte der Rotary Foundation: mit einem Portrait des Gründers Arch C. Klumph, den Logos von PolioPlus und den Rotary Peace Fellows, dem Siegel der Rotary Zone 12, zu der Italien gehört und deren Distrikte mit dafür verantwortlich waren, dass die Glocke auf die Rotary International Convention nach Atlanta und später nach Evanston gebracht wird.
Vor dem Gießen einer Glocke müssen die Handwerker als erstes entscheiden, welchen Klang sie erzeugen soll. Dieser wird mit einer komplizierten Formel aus dem Durchmesser, der Höhe und der Wandstärke der Glocke berechnet. „Die Glocke wird aus einem Ton heraus geboren“, erklärt Patriarca. Die Jubiläumsglocke der Rotary Foundation hat einen Durchmesser von 42 Zentimetern, eine Höhe von 42 Zentimetern und läutet im Ton in Harmonie mit der Glocke, die für den 100. Geburtstag von Rotary International geschaffen wurde.
Wenn Ton und Abmessungen feststehen, wird die Gussform aus Lehmsteinen gemauert, auf die Schichten aus Lehm und Hanf aufgetragen werden. Mit einer als Rippe bezeichneten Holzschablone erhält die Glocke die richtige Form. Das ist der innere Kern – die „Seele“ der Glocke – und bildet den hohlen Innenraum. Auf diesen wird eine weitere dünne Lehmschicht aufgetragen; es entsteht die sogenannte „falsche“ Glocke.
Patriarca Marinelli ist für die Verzierungen zuständig. Zunächst schnitzt sie die Motive in einen weichen Kunststoff, dann drückt sie diesen in einen Gipsblock, um ein Relief zu erzeugen. Sie gießt flüssiges Wachs in die Relief-Formen und drückt die Wachsbilder auf die falsche Glocke auf.
Darauf kommt eine weitere Schicht aus Lehm und Hanf, die man den Mantel nennt. Nach dem Trocknen bleiben die Bilder als Negativabdruck auf der Innenseite des Mantels zurück. Die Handwerker heben den Mantel mit einer Winde ab, zerschlagen die falsche Glocke und stülpen den Mantel wieder über den Kern. Der Hohlraum zwischen Mantel und Kern wird beim Gießen mit der geschmolzenen Bronze gefüllt, die sich zur eigentlichen Glocke abkühlt.
Für dieses Kunstwerk braucht es ein besonderes Talent. Selbst der Renaissance-Bildhauer Donatello überließ die Herstellung einiger seiner Reliefs den Glockengießern, weil sie Experten dieser Technik waren. Das Schnitzen eines Bildes wie das von Arch C. Klumph erfordert mehrere Stunden hochkonzentrierter Arbeit. Andere Gießereien verwenden vielleicht Computer dafür, aber hier wird alles von Hand gemacht.
„Genau wir vor 1.000 Jahren“, merkt Patriarca Marinelli an.
Bei dieser Glocke war diese Phase nach etwa fünf Monaten abgeschlossen. Für kleinere Glocken reichen vielleicht zwei Monate, bei einer sehr großen Glocke mit einem äußerst komplizierten Design kann dieser Prozess bis zu einem Jahr dauern.
Einige Tage später ist es dann soweit: Die Jahrhundertglocke für die Rotary Foundation kann gegossen werden. Ein halbes Dutzend Governors aus ganz Italien sind speziell für dieses Ereignis nach Agnone gereist. Die Handwerker haben die Gussform in der Nähe des Ofens in der Erde vergraben und die Bronze, die aus 78 Prozent Kupfer und 22 Prozent Zinn besteht, auf 1.200 Grad Celsius erhitzt. Eine Rinne aus Lehmsteinen führt vom Ofen zu einer Öffnung oben an der Gussform, dem einzigen noch sichtbaren Teil.
Past RI Director Elio Cerini ist aus Mailand gekommen und sagt einige Worte zu den Anwesenden. Die beiden Marinelli-Brüder halten jeder eine lange Metallstange in den behandschuhten Händen und sind bereit. Pasquale schiebt die Kohlen zur Seite, mit denen die Gussrinne warm gehalten wurde. Dann zieht Armando dramatisch die Ofentür auf und ruft laut „Santa Maria!“, während die geschmolzene Bronze aus dem Ofen in die Rinne läuft. Die Brüder schieben die Glockenspeise nach unten in die Gussform. In diesem Moment findet die monatelange Vorbereitung ihren feurigen Höhepunkt. Nachdem auch die letzte Bronze in die Form geflossen ist, umarmen sie sich.
Während sich das Metall abkühlt, werden wir zu einem herzhaften Mittagessen eingeladen. Anschließend kehren wir zurück in die Gießerei. Die Glocke wird mit einer Winde aus der Grube gehoben und daneben auf dem Boden abgesetzt. Ein Handwerker zerschlägt den Mantel, und die neu geborene Glocke kommt zum Vorschein. Mit einer Drahtbürste kratzen wir abwechselnd die schwarze Lehmkruste ab, bis die leuchtende Bronze zu sehen ist. (Später wird die Glocke von den Kunsthandwerkern poliert, mit dem Klöppel versehen und gestimmt, ehe sie ihren Weg nach Atlanta antritt.)
„Was wir gerade mit Rotary erlebt haben, motiviert uns, weiterzumachen“, sagt Armando Marinelli später. „Wir sind so stolz darauf, dass die ganze Welt davon erfahren wird.“
Die Arbeit der Martinellis erweitert ihre Perspektive tatsächlich über ihr abgelegenes Dorf und selbst über Italien hinaus, auch wenn die Brüder durch ihre fast tausendjährige Tradition an die Gießerei gebunden sind. „Mit 18 oder 20 Jahren möchtest du einfach nur weg von hier. Doch dann wird dir klar, dass diese Arbeit dir die Möglichkeit gibt, die Welt zu sehen“, sagt Pasquale Marinelli. „Ich war vor kurzem in Afrika. Jetzt wird uns diese Glocke für Rotary nach Atlanta bringen und wir werden die wunderbare Welt von Rotary näher kennenlernen.“
Glocken werden seit langem als Kommunikationsmittel eingesetzt. Mit verschiedenen Klängen können sie einen Tod verkünden, eine Hochzeit feiern oder Alarm schlagen. Viele Rotary Clubs beginnen und beenden ihr Clubtreffen mit dem Läuten einer Glocke. „Früher wurde mit der Zahl der Glockenschläge eine Botschaft übermittelt“, erklärt Patriarca Martinelli. „Nicht nur die Motive auf der Glocke erzählen ihre Geschichte, sondern auch ihr Klang.“
Wenn die Marinellis eine Kirchenglocke gießen, ist immer ein Geistlicher dabei. „Wir beten für das neu geborene Wesen und wünschen ihm alles Gute. Wir wünschen allen Menschen, die die Glocke hören, Glück“, erklärt Armando Marinelli. „Die Glocken werden für Kirchen geschaffen, sie sind praktisch die Stimme Gottes, die zu den Gläubigen spricht.“
Die Glocken in der Kirche Sant’Antonio Abate, die den Namen des Schutzpatrons der Fleischer trägt, läuten nur wenige Male im Jahr. Während unseres Aufenthalts in Agnone wurden wir aber zu einer Sonderaufführung eingeladen. Wir steigen über eine steile Treppe in den Glockenturm hinauf. Vittorio Lemme ist der letzte Meisterglöckner von Agnone. Er zieht an den Seilen, die von vier massiven Glocken herunterhängen. Dabei schwingt er sich kraftvoll vor und zurück und scheint bei diesem kräftezehrenden Ritual immer nur knapp einer Kollision und Gehirnerschütterung zu entgehen. Der kalte Wind bläst seine struppigen Locken nach oben. Der ohrenbetäubende Lärm lässt nicht nur unsere Ohren, sondern unseren gesamten Körper vibrieren, und es kommt uns so vor, als würden die Glocken in unserer Seele klingen.
Schon auf dem Abstieg aus dem Turm erhält Glöckner Lemme SMS-Nachrichten und Anrufe von Leuten, die fragen, warum die Glocken heute so festlich läuteten. Sie haben eine Botschaft gesendet: Sie läuteten für Rotary, um all das Gute zu ehren, das die Foundation in den letzten 100 Jahren getan hat und weiterhin leistet.
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